Dieser Brief ist den JHaS 1 gewidmet. Einige wissen, wer Sven ist. Ich hätte geradeso gut Miriam oder Nina schreiben können. Die Namen sind nicht so wichtig, aber ich musste ein paar junge Leute als Leitsterne vor den Augen haben.
Lieber Sven,
Dieses Jahr bin ich 64 Jahre alt geworden. Nicht dass das wichtig wäre! Nein, es geht um etwas anderes. Es bleiben noch ein paar Jährchen bis zu meinem letzten Tag als Hausarzt, und die wollen noch ausgekostet sein mit allen Höhen und Tiefen. Und da denkt man natürlich unweigerlich an die Generation, die danach kommt und übernimmt. Und ich habe dabei jeweils wie viele Alte ein Bauchgefühl, dass es nicht ganz so kommt, wie ich es mir wünsche. Klar, der Kopf befiehlt mir, vernünftig zu sein, aber das Denken ist halt nur halb so wichtig für das Wohlbefinden, das sich erst einstellt, wenn der Bauch auch mitgekommen ist. Ja, wie werden die Scharen von jungen Müttern und Vätern praktizieren? Wer wird all die Dienste machen, wer Platzarzt sein am regionalen Schwingfest, wer den Samaritervortrag halten, den Schularztdienst versehen, ganz zu schweigen von den nicht enden wollenden Sprechstunden? ... Und am nächsten Tag wieder um sechs Uhr aus den Federn, Tag für Tag, Woche für Woche, Jahr für Jahr. Unsere Politiker und Vordenker haben es gründlich verschlafen, Rahmenbedingungen zu schaffen für den Traumberuf, der sich offenbar zu einem Berufstrauma gewandelt hat! Niederes Einkommen? Mühsames Curriculum? Fehlende Kredite? Fehlende Anerkennung innerhalb der weissen Zunft? Trotz allem ist es mir immer noch ein Rätsel, warum Hausärztin nur für jede zehnte Studentin ein Berufsziel sein soll!
Und plötzlich wird mir bewusst, dass jede Generation zwischen zwei Generationen hängt. Um Himmels willen, das stimmt! So hat die Generation vor uns auch schon geglaubt, die Menschheit könne ohne sie nicht überleben. Da gab es in unserer Gegend Kollege S., der von sich behauptete, er müsse mit seinen 92 Jahren noch einspringen, weil keiner dieser jungen Spunde willens sei, das Telefon nachts um zwei Uhr abzunehmen. Er war früher neben der riesigen Praxis nicht nur Landrat, sondern auch noch Divisionsarzt, Verwaltungsrat und so ganz nebenbei auch noch Geburtshelfer. Die alte Hebamme im anderen Tal erzählte mir, wie er hereingerauscht kam und der Gebärenden eine Spritze verabreichte, um dann auf die Frage der Hebamme, was er jetzt gerade gespritzt hätte, zu knurren: «d'Hebamm will wider vill wüsse!» Das waren noch Zeiten, wo der Hausarzt auf einer Wolke knapp neben dem Herrgott residierte.
Und dann kamen wir, um die Welt zu erobern. Unsere Frauen setzten sich zwar in den Partnerschaften besser durch als jene der früheren Generationen, aber viele von ihnen waren absolut loyal mit dem Partner Hausarzt, dem Geschäft Praxis und der ganzen Klientele. Ohne diese weiblichen Heldinnen wären ein Grossteil meiner Freunde und ich kaputt gegangen, in den Ruin gelaufen oder ausgebrannt, depressiv, süchtig geworden. Sie waren (und sind) unsere Lebensversicherung, Rettungsringe, Organisatorinnen, Innenministerinnen und Ratgeberinnen. Obwohl einige auch daran zerbrachen, muss doch einmal gesagt sein, wie wesentlich die Arztfrauen waren für das Leben einer ganzen «Generation Hausarzt». Die Medizin fand auch in der Familie statt. Der lange Arm der Praxis reichte bis auf den Balkon und in das Wohnzimmer der Arztfamilie. Es lief ähnlich wie in einem anderen Familienbetrieb: Bäckerei, Garage, Hotel
Und jetzt kommt eine Generation, wo alles wieder aufs Neue geordnet werden muss. Die Karten werden neu gemischt und verteilt für das grosse Spiel des Berufslebens. Monopoly der Hausarztmedizin mit Risiken und Chancen, Häuschen und Geld. Die VorzeiChen sind anders. Es wird vorerst weniger Hausärzte geben. Sie arbeiten zum Teil als Angestellte in Praxen, welche durch Manager verwaltet werden. Der Ehemann der jungen Ärztin ist Architekt oder Lehrer, aber auch einmal Gärtner oder Schreinen Die Kollegin wohnt 20 Kilometer weit weg und pendelt. Die Frau des jungen Kollegen betreibt ein erfolgreiches Tanzstudio in der Stadt und kann sich nicht vorstellen, ins Dorf im Hügelland zu ziehen. Das deutsche Ärztepaar nimmt — selbst bereits Mitte 50 — das Abenteuer einer Praxisübernahme in der Schweiz auf sich und lässt den eigenen Kulturraum, die Freunde, die erwachsenen Kinder, die Kolleginnen zurück. Eine Vielzahl von Lebensentwürfen wird realisiert. Das Berufsbild Hausarzt — einst fast eine Monokultur — wird aufgesplittert. Alte Dogmen verschwinden und Tabuzonen werden betreten. Nichts wird mehr sein, wie es war. Chaos total? Ist das wirklich so neu? Ist das alles so speziell? Ich weiss nur, dass es der Gang der Dinge ist, und wo ich hinblicke, ist es dasselbe: Die Bauern sind nicht mehr die Bauern wie vor 30 Jahren, die Lehrerinnen, die Pfarrer, selbst die Kondukteure in den Zügen, alles ist anders. Ist es nicht fast eine Beleidigung für die Nörgler und versteinerten Alten? Denn siehe da, es funktioniert! Einfach anders. Und so wird es auch sein mit der Hausarztmedizin. Es wird weiter die üblichen Krisen geben, Streit um Taxpunkte, Positionen, Dignitäten und Einkommensunterschiede. Aber vieles wird wie am Schnürchen laufen, und die Kunden werden sich sehr rasch den anderen Umständen anpassen.
Mein lieber Sven. Um Dich mach ich mir sowieso keine Sorgen. Du mit deiner gewinnenden Art, Deinen guten Ideen, Deiner ansteckenden Energie. Und auch ich werde mich nicht ein Drittes Alter lang grämen. Ich bin enorm interessiert, ja gespannt, wie Ihr das anpacken werdet und was Ihr aus diesem schönsten aller Berufe machen werdet. Schaut nicht zurück und haltet Euch die Ohren zu, wenn alte Besserwisser stänkern und von alten Zeiten schwärmen sollten. Es gibt nur eine Richtung, die nach vorne. Dort warten die Aufgaben jeder neuen Generation. Ihr werdet das mindestens so gut — wenn nicht noch besser — machen wie wir. Selbstverständlich werdet auch Ihr nicht ohne Fehler, Irrungen und Wirrungen arbeiten und leben. Bleibt kritische Optimisten, dann kommt es gut für Euch und für uns alle, die wir vielleicht bald zu Euren Patienten gehören werden.
1) Junge Hausärztinnen und -ärzte Schweiz, www.jhas.ch
Dieser Artikel ist ursprünglich in PrimaryCare, Ausgabe 12/2012, erschienen.
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