Während meiner langen Tätigkeit als Hausarzt wurde ich oft gefragt - und habe mich auch selbst gefragt - was eigentlich die Rolle des Hausarztes im Leben eines Patienten ist. Oft habe ich geantwortet, dass ich mich als Wanderbegleiter oder Bergführer vorkomme, welcher seine Patientinnen und Patienten berät und zum Teil auch begleitet. Den Weg unter die Füsse nehmen muss jedoch jeder selbst. Ich konnte Ratschläge erteilen und auch begleiten, jedoch kann jemand den Weg auch selbst gehen und die Ratschläge befolgen oder sie auch in den Wind schlagen.
In der letzten Zeit hatte sich meine Rolle zunehmend verändert. Durch die allgegenwärtigen und von überall her zugänglichen Informationen kann sich jedermann selbst eine Meinung bilden und sich beispielsweise im Internet beraten lassen. Ich versuchte jeweils aus der mitgebrachten Vielfalt von Diagnosen, Ängsten und Ideen eine vernünftige Lösung zu finden, welche auch mit meinem Wissen und Gewissen in Einklang kam. Dazu werden wir Ärzte zunehmend als Kontrollinstanzen missbraucht. Einerseits von den Fachgesellschaften, die jede für sich optimale Lebensformen, ideale Laborwerte und Lebensvorschriften definiert, andererseits von der Gesellschaft, welche einen Wandel in der Vorstellung von Gesundheit durchmacht. Täglich werden wir mit einem schlechten Gewissen zurückgelassen, weil wohl keiner den Idealvorstellungen nachkommen kann, die er punkto Ernährung, Bewegungsverhalten, Risikoverhalten und Suchtmittelgebrauch vorgegeben bekommt. Der Hausarzt ist dann der Polizist, der all dies kontrollieren soll und Strafzettel verteilen muss. Die Gesundheit hat den Wert einer Religion eingenommen, deren Vorschriften stärker wiegen als jene der Kirche. Das schlechte Gewissen plagt uns mehr, wenn wir uns ungesund verhalten, als wenn wir gegen kirchliche Gebote verstossen. (siehe z.B. auch Manfred Lütz: „Lebenslust“). Wir Hausärzte /Innen haben hier die Rolle, zu trösten ( „Nicht so schlimm !“) oder den Ordnungshüter zu spielen ( „So geht das nicht!“). Es hängt sehr stark von unseren eigenen Vorstellungen bezüglich Gesundheit, von unserer Lebensphilosophie, sowie von unserem Obrigkeitsverhalten ab, wie wir uns äussern. Diese Interpretation des ärztlichen Handelns ist immer noch eines unserer Privilegien und eine Herausforderung in der Berufswelt des Eigenständigen. Wir suchen einen Weg, der allen und allem gerecht werden soll. Zum Glück ist stets alles im Wandel und bald sind auch diese Herausforderungen wieder neu definiert und es steht eine interessante Arbeit bevor.
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